Cover des Skizzenbuchs zu A.N. Stencl von Rachel Lichtenstein
Mit einem gemischten Programm von und über Avrom Nokhem Stencl stellt yiddish.berlin erste Eindrücke von der Beschäftigung mit Stencls Berliner Schaffensperiode vor. Mit Stencl schlendern wir durch Berliner Obdachlosenasyle der 20er Jahre, hören seine Gedichte, auch in einigen Neuübersetzungen, erfahren von Anekdoten aus seinem Leben und hören erstmals einige Passagen aus Rachel Lichtensteins noch unveröffentlichtem Buch über den Dichter. Ein Abend in jiddischer, englischer und deutscher Sprache. Mit dabei:
Arndt Beck | Horst Bernhardt | Hilde Haberland | Rachel Lichtenstein | Jordan Lee Schnee | Jake Schneider
Noch ehe sich yiddish.berlin 2019 als Gruppe formierte, gab es schon jahrelang in Berlin einen jiddischen Lesekreis, der von Tal Hever-Chybowski in der polnisch-deutschen Buchhandlung BUCH|BUND etabliert wurde, nach seinem Weggang von Ilay Halpern weitergeführt und schließlich Ende 2016 von Arndt Beck übernommen wurde. Bis 2020 traf sich fast jeden Sonntag eine kleine Gruppe von Jiddischsprachler:innen, die gemeinsam vor allem jiddische Prosa unterschiedlichster Autor:innen las und diskutierte.
Nach einer pandemischen Unterbrechung trifft sich der Lesekreis seit einiger Zeit wieder, nun jeden Sonntag in der Galerie ZeitZone. Zuletzt befasste sich die Gruppe mit dem Berliner Werk von Avrom Nokhem Stencl.
Anlässlich der Ausstellung zu Avrom Nokhem Stencl gibt es nun erstmals und einmalig die Gelegenheit, dem Lesekreis auch ohne jiddische Sprachkenntnisse als Gast und Zuhörer:in beizuwohnen. Aber mehr noch sind Jiddischsprachler:innen aller Niveaus dazu aufgerufen, sich lesend und diskutierend zu beteiligen.
Gelesen und besprochen wird Stencls Langgedicht “Oyfn rog” (An der Ecke), das er noch 1935 in Berlin publizierte und welches, wie der größte Teil von Stencls Berliner Werk, bisher in keine andere Sprache übertragen wurde. Leseexemplare werden vor Ort vorhanden sein, wer gut vorbereitet kommen möchte (was nicht notwendig ist), kann hier schon einen Blick darauf werfen:
Seit mehr als einem Jahr trifft sich unsere “Shmues un Vayn” (Gespräch und Wein)-Gruppe zweimal im Monat in Berliner Kneipen, Parks, Wohnungen, Buchläden und Hinterhöfen mit einem sehr einfachen Konzept: Sich zu unterhalten, sich kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen, während man bei einem Glas Wein oder Bier ausschließlich Jiddisch spricht. Die Teilnahme reicht von 6 (lauschig), über 12 (Durchschnitt) bis zu 40 (Straßenparty im letzten Sommer) Menschen. Abgesehen von gelegentlichen Brettspielen oder spontanem gemeinsamen Singen jiddischer Lieder ist unsere Struktur bewusst locker und offen.
Zu einem der wenigen strukturierten Momente kam es im letzten April, einige Monate nach Gründung der Gruppe, als die Teilnehmerin Laura Radosh einen Pessach-Salon in ihrer Wohnung veranstaltete. Wir lasen uns gegenseitig alte und neue jiddische Gedichte vor, sangen einige aschkenasische Pessach-Klassiker und rezitierten gemeinsam aus einer alten bundistischen Haggada. Ohne es zu merken, folgten wir einer halb vergessenen Tradition, die im Jahr 1910 ihren Anfang nahm: der “Dritte Seder”. In Ergänzung zu den beiden ritualisierten Sederabenden, die das Pessachfest eröffnen, ist dieser dritte Abend bei offenem Ende ein säkularer Ort für Reflektion, moderne Interpretation und kreativen Ausdruck.
In diesem Jahr, während der Ausstellung für den Dichter Avrom Nokhem Stencl, haben wir beschlossen, (diesmal bewußt) einen weiteren Dritten Seder in der Galerie ZeitZone als 25stes Shmues un Vayn-Treffen abzuhalten. Jiddischsprechende aller Niveaus sind eingeladen, mit uns einen Song, ein Gedicht, einen Witz, Kunst oder andere Beiträge — neue oder entdeckte — zu den zentralen Themen des Pessachfests zu teilen: Unterdrückung und Befreiung. Oder kommt einfach vorbei, hört zu und plaudert mit uns auf Jiddisch. Und zu Ehren der Feiertage wird auch ausreichend Wein gereicht. Und wo man schonmal da ist, kann man natürlich auch die Ausstellung in Augenschein nehmen.
Solltest Du andere Pläne für diesen Abend haben, aber etwas Jiddisch sprichst und an den zukünftigen Shmues un Vayn-Treffen interessiert bist, schreibe uns eine Mail an nayes[at] yiddish.berlin um zukünftige Einladungen zu erhalten. Wir haben außerdem bereits assoziierte Zusammenkünfte in Tel Aviv und New York organisiert und hoffen, das Konzept bald auf weitere Städte ausweiten zu können.
7— 12. April 2023 | Rachel Lichtenstein | Manchester Writing School | Manchester Poetry Library und yiddish.berlin präsentieren:
A.N. Stencl, stencil: Arndt Beck, design: Alex Kostenko
Avrom Nokhem Stencl (1897—1983)
Jiddischer Dichter — Poet of Whitechapel — Berliner Bohemien
AUSSTELLUNG | LESUNG | RADIO FEATURE | FILM
Else Lasker-Schüler nannte ihn „Hamid“, Arnold Zweig schrieb ein Vorwort für ihn, Thomas Mann äußerte sich wohlwollend über seine Poesie: Avrom Nokhem Stencl, Berliner von 1921 bis 1936, gehörte zu den erfolgreichsten zeitgenössischen jiddischen Dichter:innen im Deutschland der Weimarer Republik und legte in Berlin das Fundament seines facettenreichen und umfassenden poetischen Werks. Gemeinsam mit der Autorin und Künstlerin Rachel Lichtenstein, der Manchester Writing School und der Manchester Poetry Library bereitet yiddish.berlin die Bühne für einen fast vergessenen Berliner.
Die Ausstellung führt in Bild und Text in Stencls ereignisreiches Leben ein, gibt Einblicke in die Skizzenbücher von Rachel Lichtenstein und macht außerdem ihr Radiofeature und ihren Film zu Stencl vor Ort zugänglich.
Genau 10 Jahre ist es her, dass Helmut J. Psotta weitgehend unbeachtet starb. Arndt Beck erinnert an einen eigenwilligen Künstler, der wichtige Erfahrungen seiner Entwicklung in Lateinamerika sammelte, gibt Einblicke in die eigene Arbeit mit dem Nachlass und zeigt beispielhaft einige Hintergründe und Motive in Psottas Werk.
Die Ausstellung ist ab 18 Uhr — zum letzten Mal — geöffnet.
Arndt Beck, arbeitet als freier Künstler vorwiegend in Fotografie, Zeichnung und Text. Als Erbe H.J. Psottas vertritt er sein Werk wie das eigene. Er befasst sich zudem seit einigen Jahren intensiv mit jiddischer Sprache und ist eine:r der Initiator:innen von yiddish.berlin.
Seit bald einem Jahrzehnt entwickeln Sveta Kundish & Patrick Farrell fast nebenbei das zeitgenössische jiddische Kunstlied. Farrells Kompositionen atmen große Tiefe und loten das Zusammenspiel von Akkordeon und Gesang einzigartig aus. Gemeinsam verdichten und interpretieren Kundish & Farrell Lider aus dem reichen Schatz der jiddischen Poesie.
Jüngst erschien ihr Debut „Nem mayn vort“. Dazu heißt es:
Kundish & Farrell eröffnen eine völlig neue Perspektive auf die Welt der jiddischen Musik mit ihrem leidenschaftlichen Schwerpunkt auf Text und musikalische Komposition, ihrer Hingabe sowohl zur traditionellen als auch zur zeitgenössischen Musikpraxis und ihrer einzigartigen Virtuosität als Interpreten. „Nem mayn vort“ ist ein beeindruckendes Zeugnis ihres künstlerischen Schaffens.
Sängerin Sveta Kundish tritt mit einer Vielfalt an jüdischer Musik europaweit auf. Neben einer Vielzahl von Projekten seien Voices of Ashkenaz und Trickster Orchestra erwähnt. Sie ist regelmäßiges Mitglied und Lehrerin des Yiddish Summer Weimar. Geboren in der Ukraine wanderte Kundish in ihrer Kindheit nach Israel aus. Sie machte Abschlüsse an der Universität Tel Aviv und am Prayner Konservatorium in Wien und absolvierte in 2017 eine Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Kundish arbeitet derzeit als erste weibliche Kantorin in der Geschichte der niedersächsischen jüdischen Gemeinden.
Patrick Farrell ist Akkordeonist, Komponist und Bandleader aus Brooklyn, New York. Als Künstler von „scharfem Esprit und glühender Schnelligkeit“ (NY Music Daily) ist er in vielen verschiedenen musikalischen Stilen zuhause. Farrell spielte als Gast mit Frank London’s Klezmer Brass All-Stars und Alicia Svigals’ Klezmer Fiddle Express. Darüber hinaus ist er als Komponist, musikalischer Leiter und Begleiter für verschiedene Theater- und Tanzensembles tätig.
Jiddisch ist eine queere Sprache. Seit Generationen vermischen jiddischsprachige Menschen ihre „Queerness“ mit ihrer „Jiddishness“ und nutzen die eingebaute Intersektionalität dieser internationalen Sprache, um Theater, Musik, Kunst, Film und Literatur zu schaffen. Sara Felder schrieb: „Queer Yiddishkeit gibt mir die Erlaubnis, in die Welt meiner Großeltern zurückzukehren, ohne mich selbst zurückzulassen.“ Die multimediale Präsentation durch die Zeit beginnt 1907 mit der Berliner Erstaufführung von Scholem Aschs Stück Gott von Rache und zeigt Beispiele aus allen zehn Jahren danach. Mit dem Vortrag cruisen wir ins Vilnius der 1930er Jahre, erleben einen ein Trans-Jeschiwa-Jungen, einen schwulen Stierkämpfer aus Brooklyn, einen jiddischen Remix von Marlene Dietrich, eine sapphische Bagel-Bäckerin, ein sowjetisches Jiddisch-zu-Gay-Wörterbuch, queere Rabbiner, AIDS-Aktivismus und vieles mehr.
Jake Schneider ist Übersetzer, literarischer Organisator, aufstrebender jiddischer Dichter und stolzes Mitglied von Yiddish.Berlin. Er organisiert die lokale Jiddisch-Gesprächsgruppe “Shmues un Vayn” und gibt nach Vereinbarung Führungen über die Geschichte der Jiddischsprachigen im Berliner Scheunenviertel. jakeschneider.eu
Jiddisch und die Ukraine haben eine lange und reiche Geschichte literarischer Beziehungen. In der Veranstaltung sprechen wir darüber, wie diese Zusammenhänge in Übersetzungen umgesetzt wurden, sowohl vom Ukrainischen ins Jiddische als auch vom Jiddischen ins Ukrainische.Der erste Teil umfasst eine Einführung von Katerina Kuznetsova über die jiddische Kultur in der Ukraine nach 1917, die Aktivitäten der Kultur-Lige und Übersetzungen beider Sprachen in den 1930er Jahren. Im zweiten Teil spricht Iryna Zrobok über die ukrainischen Veröffentlichungen jiddischer Schriftsteller:innen der letzten Jahrzehnte und stellt ihre Übersetzungsprojekte vor.
Katerina Kuznetsova ist eine in Berlin lebende jiddische Literaturwissenschaftlerin und Jiddisch-Lehrerin. Sie hat einen Master-Abschluss in Jiddischen Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem, wo sie über die Übersetzungen von Sholem Aleichems Werken schrieb.
Iryna Zrobok, ursprünglich aus Lviv, lebt seit Kriegsbeginn in Berlin. Sie ist Übersetzerin und Jiddisch-Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet mit der Forschungs- und Verlagsvereinigung „Dukh i litera“ zusammen, die unter anderem zahlreiche Übersetzungen aus dem Jiddischen ins Ukrainische und Forschungsarbeiten zur Jiddistik veröffentlicht hat.
Das Denkmal Scholem Alejchems in Kyiv. Foto: Oleh Kushch/Wikimedia Commons
Veranstaltung Fällt krankheitsbedingt leider aus!
Mit Oleksandra Uralova (Kyiv/Berlin)
Innerhalb der Literaturen Osteuropas ist Scholem Alejchem einer der bedeutendsten jüdischen Schriftsteller, die auf Jiddisch geschrieben haben. Seine Werke, die in viele Sprachen übersetzt sind, sind nicht nur ein Teil des klassischen Literaturkorpus in der Schulbildung Osteuropas und insbesondere der Ukraine, sondern auch eine Quelle der Forschung von Literaturwissenschaftler:innen weltweit. Scholem Alejchem verhandelt das Leben von jüdischen Gemeinden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Beziehungen zwischen den jüdischen und christlichen Nachbarn, den Zusammenhang von Weltgeschichte, Politik und jüdischen Alltag — und auf all das trifft man in diesen Texten vor dem Hintergrund einer ukrainischen Landschaft.
Geboren im Perejaslaw im Kyiver Gebiet, hat Scholem Alejchem, der Meister des “Lachens durch Tränen”, viele Orte besucht, die man auf der heutigen Landkarte der Ukraine finden kann. Und so beschreibt unser sarkastischer Autor in seinen Werken die ukrainische Dörfer und Städte parallel zu den Shtetln, wo in der Zeit des Russischen Kaiserreich die jüdische Bevölkerung im sogenannten Ansiedlungsrajon zu wohnen hatte.
Oleksandra Uralova ist Forscherin, Schriftstellerin und Jiddischlehrerin aus Kyiv, die auch im Bereich der literarische Übersetzungen aus dem Jiddischen ins Ukrainische tätig ist. Für ihre Übersetzung von Scholem Alejchems “Tewje, der Milchmann” hat sie 2019 den Feller-Kowba-Preis der Ukrainischer Assoziation für Jüdische Studien bekommen, und im Frühjahr 2022 wurden ihre Übersetzung von Avrom Sutzkevers “Aus dem Vilnaer Ghetto” und “Grünes Aquarium” mit dem Scholem-Alejchem-Staatspreis ausgezeichnet.
Von H.J. Psottas 85. Geburtstag bis zu seinem 10. Todestag zeigen movingpoets berlin/NOVILLA Bilder aus sieben Jahrzehnten und entreißen Psotta dem Vergessen. Im Zentrum stehen seine _rosa paraphrasen, ein Zyklus, der als Teil der Collagenserie Pornografie 1978/79 begann, wenn Psotta erstmals mit der Reproduktion eines Kinderfotos seiner Mutter Rosa arbeitete. In verschiedenen Formen setzte sich die Auseinandersetzung mit diesem Foto fort und gipfelte in seine peruanischen Zeichnungenzyklen aus der Zeit mit der Grupo Chaclacayo (1982-88), wo er das Bild der Mutter mit dem der Heiligen Rosa von Lima verknüpfte und zum universellen Leidenssymbol stilisierte. Fast ein Jahrzehnt währte die Beschäftigung und allein dieser letzte Akt umfasst mehr als 100 A3-große Blätter… wir zeigen einige davon.
Andere Aspekte bietet der Zyklus Ode tsu der toyb. Anfang 2022 griff Arndt Beck noch einmal ein Thema des jiddischen Dichters Avrom Sutzkever auf, indem er das Foto der letzten nordamerikanischen Wandertaube Marta, die 1914 in Gefangenschaft starb, mit dem Langgedicht Sutzkevers verwob. Erweitert wird diese Ode mit früheren Werken Psottas und Fotografien Becks, die allesamt das Symbol der Taube thematisch umspielen.
Entdecken darf man in Psotta einen Künstler, der seiner Zeit Einzigartiges hinzuzufügen hat und voll unverbrauchter Schönheit von jener Seite lächelnd winkt, weil er es vorzog, unter dem Radar zu fliegen.
Eröffnung: 9. November, 19 Uhr Musik: Zhenja Oks
NOVILLA Hasselwerder Str. 22 12439 Berlin-Schöneweide
Öffnungszeiten: Mi 18-21 Uhr | Sa 16-19 Uhr | So 14-17 Uhr
bei allen Veranstaltungen und nach Vereinbarung: mobe@movingpoets.org | +49 177 3154530
Nicht am 24./25. Dezember
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Weitere Veranstaltungen in Kooperation mit yiddish.berlin: