Mit einem gemischten Programm von und über Avrom Nokhem Stencl stellt yiddish.berlin erste Eindrücke von der Beschäftigung mit Stencls Berliner Schaffensperiode vor. Mit Stencl schlendern wir durch Berliner Obdachlosenasyle der 20er Jahre, hören seine Gedichte, auch in einigen Neuübersetzungen, erfahren von Anekdoten aus seinem Leben und hören erstmals einige Passagen aus Rachel Lichtensteins noch unveröffentlichtem Buch über den Dichter. Ein Abend in jiddischer, englischer und deutscher Sprache. Mit dabei:
Arndt Beck | Horst Bernhardt | Hilde Haberland | Rachel Lichtenstein | Jordan Lee Schnee | Jake Schneider
Der berühmte jiddische Forverts widmet unserer Ausstellung Di farbloyte feder | Berliner zeydes eine ausführliche Besprechung. Die deutsche Übersetzung folgt hier hoffentlich bald. Und nachgereicht sei auch noch unser kleines Booklet zur Ausstellung.
Update 21. Januar 2020
Hier endlich die Übersetzung:
Berliner Künstler_innen verweben jiddische Poesie in ihre Arbeiten
von
Ekaterina Kuznetsova (Übersetzung: Horst Bernhardt)
Der
August 2019 war für die Jiddisch-Szene in Berlin ein turbulenter
Monat. Mehr als 70 Studenten beteiligten sich am zweiten
internationalen jiddischen Sommerkurs, der von der Pariser
Medem-Bibliothek in Zusammenarbeit mit der Freien Universität
abgehalten wurde.
Außerdem präsentierte sich im August YIDDISH BERLIN, »ein informeller Kreis von in Berlin ansässigen Künstler_innen, Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Enthusiast_innen, die sich dem Jiddischen als Sprache, geistige Haltung und Lebensform widmen«, wie es die Website der neuen Organisation formuliert. Der erste Auftritt von YIDDISH BERLIN war eine Ausstellung zweier lokaler Künstler, Ella Ponizovsky-Bergelson und Arndt Beck, unter dem Titel Die tintenblaue Feder – Berliner Großväter.
Die in der Ausstellung gezeigten Werke demonstrieren das Verweben von visueller Kunst und Literatur. Beide Künstler arbeiten auf ihre individuelle Art und Weise mit Texten und nutzen dabei als Material Papier, Stoff und Beton. Der Ort selbst wurde zu einer Art Exponat, welches mit dem Ende der Ausstellung verschwand. Die Themen der Ausstellung – Zeit und das Aufeinandertreffen von Zukunft und Vergangenheit – wurden klar und deutlich erkennbar, und sogar der Namen des Ausstellungsortes – Galerie ZeitZone – passte dazu. Ist Kunst in Verbindung mit dem Jiddischen etwas historisch Überholtes oder blüht diese Kombination weiter? Das ist eine der wichtigsten Fragen, die die Künstler gestellt haben.
Ella
Ponizovsky-Bergelson, eine Enkelin des
berühmten sowjetjiddischen Schriftstellers Dovid Bergelson, wurde in
der Sowjetunion geboren und wuchs in Israel auf. Sie studierte in
Jerusalem und New York und lebt zurzeit in Berlin. Ihre farbige
Biografie und ihre Kenntnis unterschiedlicher Kulturen und Sprachen –
sie spricht Russisch, Englisch, Deutsch, Hebräisch, Arabisch und
Jiddisch – hat eine starke Auswirkung auf ihre Arbeiten. In ihnen
erforscht sie die Themen Identität, Integration und Migration durch
»Text und die Visualisierung von Sprache«. Nach Auffassung von Ella
Ponizovsky-Bergelson ist das Hauptelement einer Kultur die Sprache.
Durch Nutzung unterschiedlicher Alphabete schuf sie sich ihre eigene
Technik einer hybriden Kalligraphie, um die Flexibilität von
Identitäten und Kulturen hervorzuheben.
Für
die Ausstellung wählte sie ein bekanntes Gedicht von Kadya
Molodovski: »Meine papierene Brücke«. Dieses Gedicht ist Dovid
Bergelson gewidmet und gehört somit auch zur persönlichen
Geschichte der Künstlerin und ihrer Familie. Es beschreibt die Reise
aus der Vergangenheit in ein schönes helles Morgen voll neuer
Hoffnung.
Beim
Schreiben bzw. Aufmalen des Gedichts bediente sich die Künstlerin
des althebräischen (auch kanaanäisch genannten) Alphabets, in dem
die ersten hebräischen Texte aufgezeichnet wurden und das später
von der heute noch gebräuchlichen Quadratschrift abgelöst wurde.
Ella Ponizovsky-Bergelson fühlt sich durch diese archaische
Schreibweise an die heutige Lage des Jiddischen erinnert. Sowohl das
kanaanäische Alphabet als auch das Jiddische, meint sie, seien
umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen, da beide stark in
Vergessenheit geraten seien.
»Diese
archaischen Buchstaben bitten darum, entziffert zu werden, damit das
Gedicht wieder lesbar wird – ein Zeichen dafür, wie weit die
meisten von uns entfernt sind von unseren Wurzeln und von der
Kulturgeschichte der Stadt, in der wir leben.«
Arndt
Beck stammt vom Niederrhein und lebt in
Berlin. Für seine Arbeiten benutzt er Fotografien, Texte und Bilder.
Außer seiner künstlerischen Tätigkeit ist er auch in der Berliner
Jiddisch-Szene aktiv. Seit einigen Jahren leitet er den örtlichen
Jiddisch-Lesekreis und organisiert Veranstaltungen zur jiddischen
Literatur. Sein jiddischer Lieblingsdichter ist Avrom Sutzkever,
dessen Tagebuchnotizen aus dem Jahr 1946 er gerade übersetzt. Er hat
auch einige Gedichte Sutzkevers ins Deutsche übertragen, darunter
das Gedicht Sirius,
das ihn zu einem seiner in der Ausstellung gezeigten Bilder
inspirierte.
Faktisch
war Sutzkever in dieser Ausstellung eine zentrale Figur. Die sieben
Collagen unter dem Titel Berliner
Großvater basieren auf Fotos des
Dichters und seiner Familie, die verschiedenfarbig und mit
unterschiedlichen künstlerischen Techniken präsentiert werden. Der
Künstler sieht eine wichtige Verbindung zwischen Sutzkever und
Berlin, denn dieser war der erste jiddische Dichter, der nach dem
Holocaust hierherkam. Die hellen satten Farben, die Beck verwendet,
deuten auf eine Wiederbelebung und neue Hoffnung für die jiddische
Literatur hin.
In
anderen Arbeiten hat Arndt Beck Texte der jiddischen Dichter
Mordechai Gebirtig und Moyshe Kulbak genutzt. Hier ist die Verbindung
zwischen Text und Bild abstrakter. Auf A4-großen Blättern erkennt
man Umrisse und geometrische Formen, die an hebräische Buchstaben
erinnern. Jede Arbeit hat ihre besondere Stimmung, und zusammen
bilden sie ein harmonisches Gemisch von Bild, Klang, Farbe und Form.
Die
Ausstellung wurde begleitet von einem Veranstaltungsprogramm aus
Vorträgen (zum Beispiel über Bashevis Singers Yentl
aus Trans-Perspektive), Konzerten, Filmen und Lesungen, etwa von
Dovid Bergelsons Erzählung Zwei Mörder,
die auf Englisch, Jiddisch und Deutsch vorgetragen wurde. Hauptziel
des Programms war es, die Jiddisch-Aktivitäten in Berlin in ihrer
ganzen Breite zu zeigen. Alle Mitwirkenden leben in Berlin, kommen
aber ursprünglich aus aller Welt: neben Deutschland auch aus Israel,
Russland, der Ukraine, Polen und den USA.
Die
Veranstalter sehen die Zukunft des Jiddischen in Berlin optimistisch,
weil sie ein ernsthaftes Interesse daran wahrnehmen, und haben schon
zahlreiche Ideen, wie es weitergehen könnte.
Und wenngleich das schon nicht wenig war, steht uns noch immer Einiges bevor. Am 31. August um 18 Uhr etwa führt Janina Wurbs ein in den Film “Beyle – The Artist and Her Legacy” über die jiddische Dichterin und Künstlerin Beyle Schaechter-Gottesman. Die Einführung erfolgt in deutscher Sprache, der etwa 40minütige Film ist in englischer und jiddischer Sprache. Der Eintritt ist wie fast immer frei, dennoch würden wir uns über Spenden freuen, zumal unsere Referentin extra für die Veranstaltung den weiten Weg von Bern auf sich nimmt.
Am Sonntag, den 1. September, 19 Uhr gehört die Bühne dann Sveta Kundish & Patrick Farrell. Ihr Programm “New Yiddish Song” begeistert durch die brillante und innovative musikalische Verarbeitung von Texten jiddischer Dichter_innen des 20. und 21. Jahrhunderts. Farrells eindringlicher Akkordeonton versteht sich glänzend mit der bezaubernden Stimme Kundishs. Ihre Interpretationen setzen neue Maßstäbe in der Entwicklung des jiddischen Lieds. Ein Muß. Eintritt: 12 | 8 | 5,- €. Reservierungen an ticket@yiddish.berlin.
Und ebenfalls ein Muß ist der poetische Abend von Anna Rozenfeld, Lothar Quinkenstein und Jordan Lee Schnee am 2. September um 20 Uhr. Mit “Alef-Bejs der Liebe” wurden wichtige Teile des Werks der Dichterin Celia Dropkin erstmals ins Deutsche und Polnische übertragen. Die dreisprachige Ausgabe erscheint in Kürze im Arco-Verlag. Anna Rozenfeld spricht Dropkins Gedichte auf Jiddisch, die deutschen Übersetzungen werden ebenso vorgetragen. Ein Gespräch der Übersetzer_innen beleuchtet nicht nur das Werk der Dichterin, sondern gibt auch Einblicke in den Entstehungsprozess des Buches. Bereichert durch die musikalische Begleitung von Jordan Lee Schnee. Eintritt frei – Spenden erwünscht!
Am 3. September – ab 20 Uhr – erfolgt dann schon die Finissage, bei natürlich freiem Eintritt und mit kleinem Überraschungsprogramm. Vor allem aber sollten wir noch einmal alle zusammenkommen, um das in Erscheinung getretene “Yiddish Berlin” gebührend zu feiern und es ermutigen weiterzumachen.